Surfen lernen auf der Gefühlswelle

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Achtsamkeit ist ein Konzept aus der Psychologie, in dem es vor allem darum geht, über ein Ankommen im „Hier und Jetzt“ besser mit Stress umgehen zu können. Das mag erstmal esoterisch klingen – tatsächlich aber ist die Wirkung heute wissenschaftlich sehr gut belegt: Achtsamkeit führt beispielsweise zu positiven Veränderungen im Gehirn, die mit bildgebenden Verfahren nachweisbar sind. Die Grundzüge des Konzepts möchten wir dir gerne vorstellen.


Was genau verbirgt sich aber nun eigentlich hinter diesen mysteriösen Konzept der Achtsamkeit? Achtsamkeit (im Englischen “mindfulness”) bezieht sich auf eine innere Haltung, die wir bezüglich unseres Erlebens einnehmen können:

  • Akzeptanz: wir versuchen das, was wir erleben, “einfach” anzunehmen – d.h. wir bewerten es nicht und wir versuchen nicht, das, was ist, zu verändern.
  • Beobachten: wir beobachten ganz genau, was da ist, schauen ganz genau hin.
  • Gegenwärtigkeit: wir sind voll und ganz im gegenwärtigen Moment – mit allem was in uns und um uns herum geschieht.
  • Nicht-Reagieren: vieles von dem, was wir erleben, denken oder fühlen, hat einen gewissen Aufforderungscharakter – wir sollen bestimmte Dinge tun oder lassen. Bei Achtsamkeit geht es darum, auf all das nicht “automatisch” zu reagieren, sondern bewusst zu handeln.
  • Üben: Achtsamkeit ist letztlich ein “mentaler Muskel” – und wie alle Muskeln braucht er Training. Und selbst bei langem und regelmäßigem Üben wird es Momente geben, in denen wir nicht achtsam sind: wir kämpfen, statt zu akzeptieren; wir tun und machen, statt zu beobachten; wir reisen gedanklich in Vergangenheit oder Zukunft, statt in der Gegenwart zu bleiben; wir steuern im Autopilot durch unseren Tag, statt bewusst zu handeln. Wir können nicht ab Morgen eine achtsame Haltung einnehmen und diese dann für immer beibehalten. Der Kern der Achtsamkeit ist vielmehr, genau das zu merken: wenn wir gerade nicht mehr achtsam ist – und dann wieder zu einer achtsamen Haltung zurückzukehren.

 

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Wissenschaftlich ist inzwischen eines sehr gut belegt: Achtsamkeit hilft! Es kann das Wohlbefinden und die Konzentrationsfähigkeit steigern, das Stresserleben reduzieren und auch in der Psychotherapie ist Achtsamkeit heute ein essentieller Baustein in der Behandlung von Burnout, Depressionen und Ängste. Wichtig: Achtsamkeit führt nicht dazu, dass wir nie mehr traurig oder gestresst sind oder tagelang hochkonzentriert durchlernen können; aber es kann dazu beitragen, dass wir uns nicht in Gefühlen oder Ablenkungen verlieren.

Ein Beispiel:

Die Prüfungszeit ist meistens mit einem hohen Stresserleben verbunden. Dies äußert sich beispielsweise durch körperliche Anspannung oder schlechterem Schlaf; wir stehen sehr unter Druck und können kaum noch abschalten; wir sind vielleicht gereizt und sagen eventuell Sachen zu Partner:in, Freunde oder Eltern, die gar nicht so gemeint sind, und lassen unseren Frust damit an Menschen aus, die gar nichts dafür können. Dieses ganze Stresserleben und seine Folgen stressen noch zusätzlich. Häufig schleichen sich dann noch angstvolle Gedanken ein, etwa “Ich schaffe das alles nicht” – und durch diese Bewertung entsteht letztlich noch mehr Stress. Und der ganze Stress führt wiederum dazu, dass wir uns kaum noch konzentrieren können, oder in ziellosen Aktionismus verfallen und uns völlig ohne Plan und Struktur dem Prüfungsstoff widmen. So kommen wir mit dem Lernen nicht so gut voran, der Gedanke “Ich schaffe das alles nicht” wird lauter und unsere Nerven liegen blank.

Wie kann Achtsamkeit hier helfen?

  • Achtsamkeit heißt nicht, dass du die Prüfungsphase tiefenentspannt durchstehen wirst. Es geht vielmehr darum zu akzeptieren, dass diese Zeit stressreich und anstrengend ist. Diese grundsätzliche Akzeptanz kann dir aber dabei helfen, einen besseren Umgang mit den Folgereaktionen  – Anspannung, Gereiztheit, mangelnde Konzentration, “blindes drauf-los-lernen” – zu finden.
  • Schlüpfe in die Rolle eines äußeren Beobachters: wie genau fühlt sich dieses Stresserleben eigentlich an? Was spürst du in deinem Körper – Druck im Bauch oder Brustkorb, Muskelanspannung, schneller Herzschlag, flacher Atem,…? Welche Gedanken gehen dir durch den Kopf? Verhälst du dich anders – weil du beispielsweise gereizter bist? Hast du Impulse, etwas bestimmtes zu tun? Du schulst damit deine Selbstwahrnehmung und kannst du ein genaues Beobachten dich selbst und die Welt besser kennenlernen. Und wenn du dich selbst besser kennenlernst eröffnet sich ein Raum für Veränderung.
  • Fokussiere dich auf die Gegenwart: viele Katastrophen-Gedanken (“Ich werde die Prüfung nicht bestehen”) beziehen sich auf die Zukunft – und sind letztlich vergeudete Energie. Der Gedanke kostet dich viele Ressourcen, du erlebst Ängste, Stress etc. – wozu? Durch die Gedanken und die damit einhergehenden Sorgen erlebst du die Situation in jedem Fall einmal mehr als nötig: wenn du die Prüfung bestehst waren alle Sorgen umsonst… Und wenn du tatsächlich durch die Prüfung fällst erlebst du alles ein zweites Mal.
  • Durch eine verbesserte Selbstbeobachtung lernst du zudem, auftretende Impulse besser wahrzunehmen – und das wiederum die Basis für Nicht-Reagieren. Das heißt nicht, dass du nichts mehr tun sollst.Viele von uns haben mehr oder weniger automatisch ablaufende Reaktionen auf bestimmte Reize oder Bedingungen, und derer solltest du dir bewusst werden. Du bist total gestresst und dein Impuls ist, alles hinzuschmeißen? Oder die Wohnung zu putzen? Oder panisch durch die Vorlesungsfolien zu scrollen? Versuche, den Impuls erstmal einfach nur wahrzunehmen, ohne direkt danach zu handeln. Hier können ein paar ruhige, tiefe Atemzüge helfen. Frage dich, ob es hilfreich und zielführend ist, dem Impuls zu folgen. Wenn die Antwort “nein” lautet: was könntest du jetzt in diesem Moment tun , um dich besser zu fühlen? Beispielsweise einen Lernplan erstellen, Prioriäten im Prüfungsstoff setzen oder dich mit Altklausuren auseinandersetzen – all das ist besser, als “blind drauf los zu lernen”.
  • Das alles wird nicht von heute auf morgen klappen: es braucht Zeit und Übung. Versuche daher immer wieder, in die Beobachter-Rolle zu schlüpfen: wie geht es mir gerade? Wie fühlt sich das an? Wo im Körper spüre ich das? Gibt es Gedanken oder Handlungsimpulse?

Das war jetzt natürlich nur ein kurzer Einblick in das weite Feld der Achtsamkeit 🙂 Achtsamkeit lässt sich nicht von heute auf morgen Lernen, es ist vielmehr eine innere Haltung, und diese zu kultivieren braucht definitiv Zeit und Lust, sich darauf einzulassen. Falls der Beitrag dein Interesse geweckt hat: es gibt zahlreiche Seminare, Kurse, Videos und Bücher zu den Grundlagen der Achtsamkeit, sodass du sicherlich einen für dich passenden Zugang zum Thema finden wirst.

Für den Einstieg gibt es noch zwei kleine Übungen:

  • Die “5-4-3-2-1”-Übung: Wenn du das Gefühl hast, dass nichts mehr geht, du im Stresstunnel steckst oder gar Angst und Panik spürst – nutze deine Sinne! Bennen 5 Dinge, die du jetzt im Moment sehen kannst (z.B. Laptop, Wasserglas, Stift, etc.). Dann suchst du dir 5 Dinge, die du hören kannst (z.B. vorbeifahrendes Auto, Ticken einer Uhr, Lüftung deines Computers, Schritte im Treppenhaus), und schließlich 5 Dinge, die du spüren kannst (z.B. Sitzfläche des Stuhl, Füße auf dem Boden, Kleidung auf deiner Haut). Dann startet der nächste Durchgang: 4 Dinge, die du sehen, hören und spüren kannst. Als nächstes 3 Dinge, die du sehen, hören und spüren kannst, schließlich 2 Dinge und zuletzt noch eine Sache, die du sehen, hören und spüren kannst. Diese Übung dient dazu, dich im Hier & Jetzt zu verankert und wieder in der Gegenwart anzukommen.
  • Body-Scan: eine geführte Reise durch deinen Körper. Hier gibt es zahlreiche Anleitungen auf Youtube. Eine Empfehlung ist an dieser Stelle schwer, da jede Anleitung ein bisschen anders ist – so wie wir auch! Du musst die Anleitung mögen – Sprechweise, Wortwahl, Geschwindigkeit etc. Klicke dich ein bisschen durch die Videos auf Youtube, und du wirst schnell merken, womit du dich wohl fühlst 🙂 Auch viele Krankenkassen bieten inzwischen Body-Scan-Anleitungen als Audiodateien an.

 


Literatur:

  • Kabat-Zinn, Jon: Gesund durch Meditation. Knaur, 2019.
  • Wengenroth, Matthias: Therapie-Tools Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT). Beltz, 2017.
  • Williams, Mark & Penman, Denny: Das Achtsamkeitstraining. Goldmann Verlag, 2015.